Une part manquante

14.08.2025

Une part manquante

Bereits in seinem letzten Film «Nos batailles» (dem die Interfilm-Jury 2018 am Bieler Filmfestival den «Prix Célestine» verliehen hat), thematisierte der belgische Regisseur Guillaume Senez die Folgen eines Verlustes. Als Olivier, engagierter Gewerkschafter und Vater zweier Kinder, eines Abends nachhause kommt, ist alles anders als bisher: Seine Frau Laura hat die Familie ohne Begründung oder Angabe ihres Aufenthaltsorts verlassen.

Regie: Guillaume Senez
Frankreich/Belgien 2024; 98 Min.
Besetzung: Romain Duris (Jay), Mei Cirne-Masuki (Lily), Judith Chemla (Jessica)
Sprache: Französisch und Japanisch, UT: Deutsch
Verleih: Cineworx GmbH (www.cineworx.ch)

Kinostart Deutschschweiz: 14. August 2025

Im neuen Film «Une part manquante» ist der Verlust ein Kind bzw. die Möglichkeit, als Elternteil (hier als Vater) dieses in seinem Heranwachsen begleiten zu können. Der Franzose Jérôme, genannt Jay, war früher mit der Japanerin Keiko verheiratet. Die beiden trennten sich, als ihre gemeinsame Tochter Lily drei Jahre alt war. Das japanische Recht sieht in diesem Falle weder ein gemeinsames Sorgerecht noch ein Besuchsrecht vor. Ein Kind bleibt in der alleinigen Obhut jenes Elternteils, wo es zuletzt war – in fast allen Fällen ist dies die Mutter. Jay kann dies nicht akzeptieren und macht sich auf die Suche nach seiner Tochter. Seine Stelle als Koch hat er aufgegeben und ist Taxifahrer geworden, um so nachts zu arbeiten und tagsüber nach Lily suchen zu können. Bereits zehnmal, wie Jays Vater entnervt registriert, habe er gemeldet, er sei fündig geworden, als eines Tages unverhofft ein Mädchen in Jays Taxi steigt, das jener als die nun zwölf Jahre alte Lily erkennt. Seine Hartnäckigkeit, die zum Teil an Obsession, ja fast an Stalking grenzt, hat sich gelohnt.

Die Stärke des Films liegt einerseits darin, dass er eine gesellschaftliche Realität Japans ins Bewusstsein ruft, die unendlich viel Leid verursacht. Man spricht von 150'000 «entführten Kindern» pro Jahr, die in Japan einem Elternteil entzogen werden. Politische Vorstösse, die gegen ein traditionelles Familienbild (eine Ehe soll nicht getrennt oder geschieden werden) ankämpften, haben erreicht, dass die Gesetzgebung vermutlich in den nächsten Jahren im Sinne eines gemeinsamen Sorgerechts angepasst wird. Ist ein Elternteil Ausländer:in, wird es noch komplexer. Einem Vater oder einer Mutter, die sich gewaltsam Zugang zu ihrem Kind verschaffen, drohen Gefängnis und die Abschiebung.

Sozusagen als Parallelgeschichte erleben wir den Kampf der Französin Jessica, die nach Japan reist, um die vom früheren Partner dorthin «entführten» Kinder zu sehen und allenfalls zu sich nach Frankreich zu nehmen. Jay kümmert sich rührend um sie. Und sie, Jessica, gibt ihm die Kraft, durchzuhalten, weiterzukämpfen. Jay weiss, was Jessica durchmacht. Sein eigenes Leiden, sein Verletzt-Sein, sein Kampf um jenen wichtigsten Teil, der ihm fehlt, um sich «komplett» zu fühlen, wird durch den Schauspieler Romain Duris (der bereits in «Nos batailles» die Hauptrolle innehatte) überzeugend verkörpert. Beeindruckend übrigens, wie Duris sich die japanische Sprache angeeignet hat für jene Sequenzen, die nicht zwischen französisch sprechenden Personen spielen!

Der Film ist auch insofern gelungen, als er uns einlädt, sozusagen mit dem Taxifahrer in das nächtliche Tokio einzutauschen. Ab und zu im Rückspiegel des Autos erleben wir dieses zwischen Gewusel und Vereinzelung, zwischen Einsamkeit, Verlassenheit und berührenden Begegnungen. Anders als in all den Filmen, in denen Migrant:innen in Europa oder den USA im Zentrum stehen, geht es hier um die bedrückenden Erfahrungen von Expats in einem asiatischen Land, in einem Kontext, der europäischen Menschen in der Regel sprachlich, kulturell und religiös fremd ist.

Berührend ist zudem, wie Regisseur Senez bzw. die Kamerafrau Elin Kirschfink den Umgang mit Emotionen einfangen. Anfänglich wirkt alles sehr zurückhaltend, vielleicht eben sehr «japanisch», was sich Jay in all den Jahren in Japan auch einverleibt zu haben scheint. Die Begegnungen zwischen Jay und Lily, zwischen Vater und Tochter, gewinnen jedoch zunehmend an Emotionalität. Die beiden kommen sich mehr und mehr nahe, auch räumlich und körperlich. Sie sind nun öfters gemeinsam im Bild. Lily setzt sich vorne im Taxi neben ihren Vater und feiert mit diesem zusammen ausgelassen. Dabei verändert sich auch der Fokus: Ging es anfänglich um die Verzweiflung von Erwachsenen, denen ihre Kinder entzogen wurden, werden wir nun auch mit den Unsicherheiten und den Defiziten eines Mädchens konfrontiert, das einmal bekennt, es fühle sich manchmal nur halb als Japanerin. «Eine Mutter kann man vergessen», versucht Jay einmal Jessica zu trösten (und fängt sich dabei von jener eine Ohrfeige ein). In den Schlusssequenzen des Films wird deutlich, dass nicht stimmen wird, was Jay Jessica und sich selber einreden wollte: Auch ein Kind wird ihrer Mutter oder ihren Vater, die ihm entzogen wurden, nicht «vergessen», in welcher Form auch immer.

Insgesamt: ein überzeugender Film nicht nur über ein gesellschaftliches Phänomen in einem meist fremden Kontext – als Fiktion, aber mit einem bedrückenden realen Hintergrund, sondern auch über das Vater- bzw. Elternsein, über Erfahrungen von Verlust, über das, was einem Menschen abhandenkommen kann, um sich «ganz» zu fühlen, über Resilienz und den sich lohnenden Kampf für ein unaufgebbares Menschenrecht.

Hermann Kocher