
15.05.2025
Quir
Regie: Nicola Bellucci
Schweiz, 2024, 105 Min.
Besetzung: Gino Campanella, Massimo Milani, Ernesto Tomasini, Vivian Bellina, Charly Abbadessa
Verleih: Cineworx GmbH, www.cineworx.ch
Vorpremiere mit Cast & Crew in Bern: Freitag, 9. Mai 2025 20.15 Uhr, Kino Rex 1
Kinostart Deutschschweiz: 15. Mai 2025
Inhaber von «Quir» sind Gino und Massimo. Sie sind seit 42 Jahren ein Paar. Gino verliess seinerzeit der Liebe wegen Frau und Kinder. Geheiratet haben sie erst vor kurzem, verbunden mit einem Gedenken an einen homophob motivierten Mord an zwei jungen Schwulen. Massimo hat im Laufe der Jahre eine Transition vollzogen – ob er nun (nach wie vor) Mann oder (neu) Frau ist, mag Massimo sich allerdings nicht festlegen. Gino hat die Veränderungen seines Partners zur Kenntnis genommen und mit Grosszügigkeit und Wohlwollen begleitet. Beide haben als Aktivisten immer wieder für Rechte der LGBTIQ*-Community gekämpft, was in einem konservativ-patriarchal (und mafiös) geprägten Umfeld keineswegs selbstverständlich und auch nicht ohne Anfeindungen durchzuziehen war.
In Ginos und Massimos Geschäft darf ein Bürger auch seine Irritationen über die diverse Ausdifferenzierung der heutigen Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Ihm wird mit guten Gegenargumenten und spitzen, witzigen Bemerkungen die Stange gehalten. Vor allem aber lässt Regisseur Bellucci uns hier auf weitere Seelenverwandte der beiden Inhaber treffen, die wir dann auch durch die malerischen Strassen Palermos bzw. an ihre Wohnorte begleiten dürfen. Ernesto ist oder war ein erfolgreicher Drag Queen-Sänger mit einer aussergewöhnlich hohen Stimme, ein Schwuler, der sich allerdings auf keine Rolle festlegen will, sondern es liebt, sich zu verwandeln. Es ist berührend, wie er seine Karriere aufgegeben hat, um sich ganz der Pflege seiner betagten, an Demenz leidenden Mutter zu widmen, bis zu deren Tod. Die Mutter ist während gut drei Jahren sozusagen zum Publikum für seine Auftritte geworden.
Regelmässig schaut auch Vivian im «Quir» vorbei. Als Frau, die eine Transition hinter sich hat, hat sie eine belastende Zeit zu verarbeiten und mit Anfeindungen zu kämpfen. Sie ist dankbar für jede Unterstützung seitens Massimo. Was macht eine Frau zur Frau? – das ist eine der sie im Austausch mit Massimo umtreibenden Fragen. Schliesslich lernen wir auch Charly kennen. Als Sohn sizilianischer Emigranten ist er in den USA aufgewachsen. In Hollywood war er offenbar mit allen möglichen Stars bekannt (und mehr). Als gealterter Schwuler lebt er nun in Palermo und hadert damit, dass er seine Attraktivität, die ihn als Jugendlichen auszeichnete, verloren hat. Eindrücklich erleben wir mit, dass es ein Recht gibt, an seiner Vergangenheit festzuhalten, Energie daraus zu ziehen und auf Geleistetes stolz zu sein. Charly steht aber auch für die Tragik eines Menschen, der in dieser Vergangenheit verhaftet bleibt und keine offenen Türen zur Gegenwart und Zukunft findet. Die Schönheit des Alters, die dieser Film auch zelebriert, bleibt ihm verborgen.
Regisseur Nicola Bellucci (geb. 1963 im italienischen Arezzo) arbeitete zunächst mehrere Jahre als Autor und Kameramann in Italien, bevor er 1996 nach Basel übersiedelte. Mit seiner Dokumentation bzw. Dokufiktion hat er einen Mutmacher-Film geschaffen, der nicht nur die bleibende Notwendigkeit eines politischen Engagements durch und zugunsten von Menschen in Minderheitssituationen betont, sondern immer wieder auch unterhaltsame Seiten aufweist. Wir tauchen dabei in den malerischen Mikrokosmos Palermos ein, sind aber, wie Produzent Frank Matter es ausdrückte, «mit universellen Themen wie Freundschaft, Liebe und Gemeinschaft» konfrontiert. Trotz allen Beeinträchtigungen, denen sich der Kreis um Gino und Massimo ausgesetzt sieht, sprüht der Film auch von Lebensfreude, von Ermutigung für ein selbstbestimmtes Leben ohne Scham, von Zuversicht und Humor, von der Lust, sich in verschiedenen Rollen auszuprobieren und von der Freude an eigener und fremder Körperlichkeit.
«Quir» ist zu Recht anlässlich der Solothurner Filmtage 2025 mit dem «Prix du Public» ausgezeichnet worden.
Hermann Kocher