
06.03.2025
La plus précieuse des marchandises - Das Kostbarste aller Güter
Immer wieder rollen Züge mit Menschen, die deportiert werden, durch den einsamen Wald. Das Holzfäller-Ehepaar kämpft gegen Kälte, Hunger und Armut, die Frau, die sich ein Kind wünscht, auch mit Gefühlen von Einsamkeit. Eines Tages hört die Frau das Wimmern eines Kleinkindes, das aus einem der vorbeifahrenden Züge geworfen worden ist. Sie nimmt das Kind auf und setzt ihr Handeln gegen den Willen ihres Mannes durch. Für ihn hat ein herzloses Kind – jüdische Menschen werden in seiner Umgebung als «Herzlose» bezeichnet – in seinem Haus nichts zu suchen. Doch seine Frau – «die Frau des Holzfällers», namenlos wie alle in diesem Film – gibt nicht auf, kämpft gegen Vorurteile und für das Leben jenes Kindes. Mit der Zeit taut auch ihr Mann auf, kommt in Kontakt zu seinem eigenen Herzen und setzt sich für das Mädchen ein. Er tut dies gegen die feindselige Stimmung der «Patrioten» im Kreise der Holzfäller, die den Tod der Jüdinnen und Juden fordern und behaupten, diese seien schuld am gegenwärtigen Krieg. Die Lage eskaliert, der Holzfäller, einige seiner «Kollegen» sowie ein weiterer Mann, der sich der Frau und des Kindes annimmt, kommen ums Leben. Auf der anderen Seite wird Ausschwitz von russischen Soldaten befreit. Der leibliche Vater des Kindes hat überlebt. Ausgemergelt macht er sich auf den Weg, der Bahnstrecke entlang Richtung Wald. Anhand einer Decke, in der er das Kleinkind seinerzeit eingewickelt und aus dem Zug geworfen hat, erkennt er seine Tochter.
Der Film illustriert die Geschehnisse in den folgenden rund fünfzehn Jahren. Dazu sei hier nichts verraten. Erwähnt werden muss, dass es sich um einen Animationsfilm handelt, den wir dem Regisseur Michel Hazanavicius, geboren 1967 in Paris in einer jüdischen Familie polnisch-litauischer Herkunft, verdanken. International wurde Hazanavicius bekannt durch den Film «The Artist» (2011). Mit «La plus précieuse des marchandises» als Animationsfilm hat er sich an ein neues Genre gewagt, das unter die Haut geht – aufgrund der Tragik der Geschichte, aber auch der Faszination darüber, wie es gelungen ist, diese als Animationsfilm zu visualisieren.
Besonders faszinierend ist die Darstellung von Gesichtern, vor allem das Spiel mit den Augen der Handelnden. Deren Mimik bringt Gefühle wie Erschöpfung, Erschrecken, Todesangst und Wut, aber auch Staunen, Erfüllung und Freude auf eindrückliche Weise zum Ausdruck, oft präziser, als ein Spielfilm dies einlösen würde. Besonders dicht erscheint dies in der Szene, in der der Holzfäller Zugang zum Mädchen findet und die Gesichter des Mannes, des Kindes und seiner Frau, die den Vorgang heimlich beobachtet, sich verändern.
Eine Stärke des Animationsfilms ist das Motiv der Züge, das sich durch den Film hindurchzieht. Immer wieder werden wir Zeuge jener Züge, die (so scheint es) immer länger werden und mit Warntönen durch den verschneiten Wald donnern. Die Lampen an der Lokomotive bringen für einen Moment Licht in das dunkle Gebüsch, danach sind aber nur die verschlossenen Wagen zu sehen, die uns lange Zeit nur ahnen lassen, was sich darin abspielt. Erst mit der Zeit bekommen wir Einblick in das Inneres eines Wagens, sehen dort die zusammengepfercht kauernden Menschen und den Vater, der eines seiner Kinder in ein Tuch wickelt und aus dem Wagen wirft. Welch Gegensatz dazu dann ein Zug in der Nachkriegszeit: bequeme Sessel, Fenster, Licht in den Abteilen.
Der Regisseur hat einmal betont, es sei ihm nicht darum gegangen, die Vorgänge im Vernichtungslager Ausschwitz zu dokumentieren, sondern den Akt der Liebe jener mutigen und kämpferischen Frau und anderer, die nach ihrem Gewissen und mit Empathie gehandelt hätten. Insofern ist auch ein Plädoyer am Schluss des Filmes für die Liebe, die bewirke, dass das Leben weitergehe, zu verstehen. Gemessen daran sind einige wenige Szenen, die die Vorgänge in Ausschwitz zum Thema haben, zu lang geraten. Zum Beispiel im Moment der Befreiung des Lagers, wo Bilder von Schädeln Ermordeter mehrfach eingeblendet werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Hazanavicius ein äusserst (Bild-)starker Film gelungen ist, der gerade auch in der Form des Animationsfilms in den Bann zu ziehen weiss.
Der Film könnte, abgesehen von dessen Diskussion mit Erwachsenen, auch im Unterricht mit Jugendlichen eingesetzt werden. Neben der Erörterung von Hintergrundinformationen zu Shoa oder Antisemitismus stellt er Fragen wie: Was ist das Kostbarste in deinem Leben? Was bedeutet es, wenn für den Erhalt eines Menschen etliche Andere ihr Leben lassen? Was bedeutet «Liebe als Verzicht» (im Film: als Vater auf sein Kind)? Ins Gespräch gebracht werden könnte auch der Begriff der «Ware», der «Güter» (marchandise), mit dem der Film in Bezug auf das Mädchen spielt. Aber auch die Stärken (und Schwächen) eines Animationsfilms wären zu thematisieren. Ob es ratsam ist, Bezüge zur heutigen (politischen) Situation herzustellen, wie es die im Folgenden zitierte Jury getan hat, bleibt fraglich.
Auf jeden Fall zurecht hat die Interfilm-Jury diesem Film am Festival du Film Français d’Helvétie 2024 in Biel den «Prix Célestine» verliehen. In ihrer Begründung heisst es: «Das Werk besticht durch seine visuelle und erzähltechnische Ästhetik. Auf geschickte Weise verbindet es geschichtliche Faktizität mit Fiktion und politischer Aktualität. Dabei entzieht sich der Film jeder klischierten Banalisierung und lässt Humanität pulsieren.»
Dieser Animationsfilm «über die Liebe in ihren unterschiedlichsten Facetten und über Humanität» (so die Bieler Jury) kommt am 6. März 2025 in die Kinos der Deutschschweiz und Deutschlands.
Hermann Kocher
Regie: Michel Hazanavicius
Frankreich 2024; 81 Min.
Sprecher in der französischen Originalversion: Jean-Louis Trintignant
Verleih: Frenetic Films AG, Zürich (www.frenetic.ch)
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=bYuRRWBCDjs&ab_channel=freneticfilms