Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

01.09.2024

Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

Ein neuer Wurf von Samir! Mit 129 Minuten vielleicht etwas gar lang geraten, aber fesselnd von Anfang bis Schluss. Der Film dokumentiert die Situation der italienischen (und spanischen) sogenannten «Gastarbeiter» (oder «Saisonniers») in der Schweiz in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Mit vielen zusätzlichen Pisten, die eröffnet werden, ist ein collagenartiges Zeugnis der Geschichte der Schweiz von der Nachkriegszeit bis in die 80er/90er Jahre entstanden.

Regie: Samir, Dokumentarfilm, Schweiz, 2024, 129'
Verleih: Dschoint Ventschr, Zürich (www.dvfilm.ch)
Ab sofort in Deutschschweizer Kinos

Ein neuer Wurf von Samir! Mit 129 Minuten vielleicht etwas gar lang geraten, aber fesselnd von Anfang bis Schluss. Der Film dokumentiert die Situation der italienischen (und spanischen) sogenannten «Gastarbeiter» (oder «Saisonniers») in der Schweiz in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Mit vielen zusätzlichen Pisten, die eröffnet werden, ist ein collagenartiges Zeugnis der Geschichte der Schweiz von der Nachkriegszeit bis in die 80er/90er Jahre entstanden.


Der Film ist äusserst reichhaltig und abwechslungsreich komponiert. Statements von Zeitzeug:innen stehen neben Materialien aus Archiven oder privaten Sammlungen, Animationsmaterial oder Filmausschnitten (von Alexander J. Seilers «Siamo Italiani» von 1964 über Rolf Lyssys «Die Schweizermacher» von 1978 bis zu Milo Raus «Das neue Evangelium» von 2020). Zudem geben Zwischentitel einige Orientierung (was nicht unbedingt nötig wäre, da der Film «für sich spricht»). Unter den Zeitzeug:innen befinden sich in der breiteren Öffentlichkeit unbekannte Männer und Frauen, die ihr persönliches Schicksal als Migrant:innen oder Kinder von solchen erzählen. Daneben auch Persönlichkeiten, die die schweizerische Politik und Gesellschaft der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart massgeblich mitgeprägt haben: die Unia-Präsidentin Vania Alleva oder der Gewerkschafter Vasco Pedrina. Dass alle Befragten in italienischer Sprache antworten (obwohl die meisten von ihnen deutsch bzw. schweizerdeutsch sprechen würden), empfinde ich als Würdigung dieser Personen und ihrer Geschichte gegenüber. Die Porträts dokumentieren auch Unbekanntes. So das Wirken einer italienischen Gitarrenspielerin, die auch durch die Schweiz zog, um ihre Landsleute im Kampf um ihre Rechte zu unterstützen. Bislang (zumindest mir) nicht geläufig war der Aspekt, dass bis in die 50er Jahre vor allem Frauen als Migrantinnen die ärmlichen Regionen Italiens verliessen. Auch die Emanzipation von Migrantinnen (greifbar etwa anhand einer Tagung auf Boldern) wird zum Thema.


Samir, geboren 1955 in Bagdad, emigrierte als Kind mit seinem irakischen Vater und seiner Schweizer Mutter in die Schweiz. In seinen früheren Werken (zuletzt «Iraqi Odyssey» von 2014 und «Baghdad in My Shadow» 2019) hat er sich ausgehend von seiner eigenen Geschichte mit seinem Herkunftsland bzw. der Emigration aus dem Irak auseinandergesetzt. Auch in seinen neusten Film bringt er sich ein, sozusagen als Zuschauender des Geschehens oder auch als direkt Betroffener (so auf seinem komplizierten Weg zum Schweizerpass). Seine Beziehung zu italienischen Migrant:innen wird durch die Jahre immer neu beleuchtet und es werden Parallelen zum eigenen Werdegang reflektiert. Nach und nach realisierte Samir, wie er selber Teil dieser (Migrations-)Geschichte ist. Hier kommen nun auf neue und erfrischende Art Animationen zum Zug: Samir selber (vom Kind bis zum Jugendlichen) sowie einzelne weitere Handelnde werden mittels Avatare dargestellt, die anhand von Fotos konstruiert wurden (Motion Capture-Technologie).


Gerade Menschen, die wie ich jene Jahre miterlebt haben (ebenfalls Jahrgang 1955), wird dieser Film nicht kalt lassen. Da kommen Erinnerungen hoch, Vergessenes (oder Verdrängtes) an die Oberfläche, werden eigene Bewertungen geweckt. Dazu gehören einige Aspekte, die sich in mir positiver abgespeichert haben als in Samirs Dokumentation. Als einer, der durch den Beruf seines Vaters in seiner Kindheit und Jugend immer in Kontakt mit Italienern war, haben ich deren Unterkünfte (in der Tat: Baracken) in wesentlich besserer Erinnerung als die wohl schlimmstmögliche Unterkunft, die im Film dokumentiert wird. Etliche «Gastarbeiter» sind in der Schweiz sesshaft geworden, haben hier ihre Liebe gefunden und Familien gegründet. Etwas ratlos lässt mich zudem die Szene zurück, in der der Avatar von Samir (als «Papierli-Schweizer») von mehreren Polizisten brutal zusammengeschlagen wird. Beruht dies auf real Erlebtem oder handelt es sich um die konzentrierte Darstellung der vielfältigen Formen von Gewalt, denen Migranten ausgesetzt waren?


Nichtsdestotrotz: Samir legt den Finger auf wunde Punkte, die in der Tat rückblickend als skandalös bezeichnet werden müssen. Neben der Unterbringung von Migranten gehören etwa entwürdigende sanitarische Untersuchungen beim Grenzübertritt oder die Verhinderung des Familiennachzugs dazu (die schlimme Situation von sog. «Schrankkindern» wird breiter thematisiert und zurecht angeprangert). Erschreckend ist, wie sich im Umfeld der (knapp abgelehnten) Schwarzenbach-Initiative fremdenfeindliche und rassistische Stimmungen breit machten. Unglaublich, wie oft bei einem Lokal Italienern der Eintritt verwehrt wurde oder bei Vermietungen von Wohnungen der Vorbehalt «Keine Italiener» oder «Keine Ausländer» angebracht wurde.


Viel Raum nimmt im Film das Verhalten von Gewerkschaften ein, denen oft die einheimischen Arbeitnehmer:innen näher waren als die «Ausländer:innen», oder die gar mit der Initiative von James Schwarzenbach und ähnlichen Vorstössen gegen die sog. «Überfremdung» liebäugelten. Samir zeigt jedoch auch auf, wie die Gewerkschaften sich im Laufe der Jahre öffneten und ihre Verantwortung für alle Arbeiter:innen wahrnahmen. In diesem Zusammenhang erörtert Samir dann auch seine These, die Arbeiterklasse habe sich wundersam in Ausländer verwandelt: Der Begriff «Arbeiter» sei zugunsten jenes des «Ausländers» gestrichen worden, wobei Letztere Personen gleichkämen, die heute aus anderen, nicht-europäischen Ländern in die Schweiz fliehen und jene Arbeit verrichteten, die Schweizer:innen nicht tun möchten. Im Unterschied zu den «Expats», die wohlsituiert die gut bezahlten Posten einnähmen.


Gegen Schluss schlägt Samir fast versöhnliche Töne an. Er würdigt Fähigkeiten der Migrant:innen zur Selbstorganisation (durch «Colonie libere» oder eine «Casa d’Italia») und zeigt auf, wie «Italianità» im kulinarischen wie musikalischen Bereich heutzutage schick geworden ist. Wir werden dabei nochmals ins «italienische Viertel» rund um die Zürcher Langstrasse geführt, das Samir als heute multikulturelles Quartier mit nach wie vor italienischer Prägung charakterisiert. Es wird auch daran erinnert, wie es heutzutage Nachkommen von Migrant:innen sind, die die Schweiz hier und im Ausland repräsentieren, von einem Shaqiri im Fussball bis zu einer Melinda Nadj Abonji in der Literatur.


Daneben setzt Samir jedoch auch nochmals einen Akzent, der zum Nachdenken zwingt: Er zeigt auf, wie die ehemals despektierlich Behandelten (in diesem Fall italienische Migrant:innen), die nun etabliert sind, sich gegenüber den neuen «Unerwünschten» ähnlich verhalten, wie sie es seinerzeit selber erlebt haben. Ausschnitte aus Milo Raus «Das neue Evangelium» machen auf die schlimme Lage von afrikanischen Arbeitern auf den Tomatenfelder Süditaliens aufmerksam. Der Film endet mit einem Plädoyer von Samir für den Schutz dieser Erde, gegen die Diskriminierung von Menschen bzw. für die Gleichheit aller Menschen. Dem ist, wie Samir zuvor in einem anderen Zusammenhang sagt, nichts hinzuzufügen.


Hermann Kocher