
05.09.2024
Close to You
Die Darstellung der Konfrontation von Sam mit seinem Familiensystem gehört zu den Stärken dieses Films. Es werden Verhaltensweisen aufgezeigt, mit denen sich wohl mancher Mensch nach einer Transition auseinandersetzen muss. Am meisten Rückhalt erfährt Sam von seinem Vater Jim, der stolz ist auf seinen Sohn, der seinen Weg unbeirrt gegangen ist. Die Mutter gibt sich Mühe, ihren trans Sohn zu akzeptieren, ist aber mit der Situation auch überfordert und fällt ab und zu ins Pronomen «sie» zurück. Die Geschwister artikulieren Verständnis für Sam und wollen den Frieden der Geburtstagsfeier retten. Immer neu dringt aber durch, dass sie nicht wirklich akzeptieren können, einen trans Mann als Bruder zu haben. Sie, die sich in einer mittelständischen heteronormativen Umgebung etabliert haben, machen sich Sorgen um Sam: Er sei wirtschaftlich nicht abgesichert, besitze kein eigenes Heim, stehe in keiner festen Beziehung, habe keine Familie gegründet. Sam kontert diese Bedenken mit der Überzeugung, er habe den richtigen Weg eingeschlagen, stehe voll im Leben und sei glücklich. In einer Schlüsselstelle des Films stellt er fest, auf Unterstützung wäre er damals angewiesen gewesen, als es ihm wirklich schlecht gegangen sei. Zu jener Zeit habe sich jedoch niemand Sorgen um ihn gemacht. Die Situation zum Eskalieren bringt schliesslich Sams Schwager Paul, der sich offen transphob äussert und Sam mit Verachtung begegnet. Sam verlässt daraufhin sein Elternhaus.
Etwas weniger gelungen scheint mir die Darstellung der Beziehung zwischen Sam und der früheren Highschool-Kollegin Katherine. Bewegend ist, wie die beiden nach und nach eine Sprache finden, um auszudrücken, was sie füreinander empfinden (es werden dabei viele Tränen vergossen, allenfalls auch bei Zuschauenden). Die Beziehung zwischen Sam und Katherine erinnert jedoch streckenweise eher an eine solche zwischen Mutter und Sohn als zwischen zwei sich (nach wie vor) Liebenden. Wie die momentane Situation von Katherine aussieht und inwiefern diese so unerträglich ist, dass sie ihren Mann und ihre «süssen Kinder» zumindest für einen Moment verlässt und zu Sam nach Toronto reist, bleibt eher schleierhaft.
Nichtsdestotrotz: Mit «Close to you» hat der britische Regisseur Dominic Savage einen bewegenden und berührenden Film geschaffen. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet die Kameraführung (oft mittels Handkamera) mit eindrücklichen Nahaufnahmen der Gesichter der Protagonist:innen. Zusammen mit dem vorherrschenden grau-braun-blauen Farbton, ergänzt mit der roten Mütze Sams, und der dezent eingesetzten Musik entsteht in einzelnen Sequenzen eine fast meditative Stimmung.
Im Zentrum des Films steht ein trans Mann. Wie meist bei Filmen aus dem LGBTIQ-Genre ist es jedoch auch hier so, dass der Film eine breitere Palette von Themen eröffnet. Zum Beispiel zur Frage, wann es sich lohnt, abgebrochene Beziehungen zu reaktivieren und wann es förderlicher ist, diese ruhen zu lassen. Oder die Frage, die sich anhand der Diskussionen zwischen Sam und seinen Geschwistern stellt: Wann ist ein Leben erfüllt, was brauche ich und welche Ziele setze ich mir, um glücklich zu sein. Und schliesslich (hier anhand der Transition von Sam): Wer bin ich, wie finde ich zu mir selber oder wie komme ich dem näher, was in mir angelegt ist?
Der Film lebt nicht zuletzt von der herausragenden Darstellung Sams durch Elliot Page. Am Drehbuch und an der Produktion hat Page zudem wesentlich mitgearbeitet. Elliot Page (früher Ellen Page) hat selber vor ein paar Jahren eine Transition vollzogen. Dadurch sind viele der Erfahrungen, die er in diesem Zusammenhang gemacht hat, in diesen Film eingeflossen.
Hermann Kocher
Regie: Dominic Savage, Kanada/Grossbritannien 2023; 99'
Cast: Elliot Page (Sam), Hillary Baack (Katherine), Wendy Crewson (Miriam, Mutter), Peter Outerbridge (Jim, Vater)
Verleih: Frenetic Films AG, Zürich (www.frenetic.ch)
Startdatum in den Deutschschweizer Kinos: 5. September 2024
Nachgefragt bei Henry Hohmann*
Inwiefern ist dies ein Film zum Thema "trans"? Oder: was ist für dich das Thema des Films?
Der Film geht primär um die Geschichte eines trans Manns und seine Familie und alte Beziehungen. Aber er könnte genauso jedes andere Thema umfassen, wo eine Person einen wichtigen, lebensentscheidenden Schritt gegangen ist, wie etwa ein schwules oder lesbisches Coming-out. Viele der Situationen des Films könnten sich dann ähnlich entwickeln und dürften vielen Menschen aus der queeren Community bekannt vorkommen.
Was findest du stark, gelungen am Film? Was ist allenfalls das Spezifische gegenüber früheren Filmen zu trans Themen?
In dem Film geht es praktisch gar nicht über die eigentliche Transition, sondern über das Nach-Haus-Kommen, das sich (wieder) der Familie stellen. Was viele andere Trans-Filme kennzeichnet, ist ein genaues Aufzeigen von Transitionsschritten - vom Coming-out über die Hormone zu den Operationen oder das Drama und die Probleme eines Coming-outs. All das wird hier gar nicht angesprochen, sondern es wird das Gefüge einer Familie beleuchtet, in das die trans Person nach jahrelanger Abwesenheit wieder eintritt, und im zweiten Erzählstrang entflammt eine alte Beziehung wieder. Es geht um Fragen des Familienzusammenhalts, die Themen Transfeindlichkeit und Unverständnis werden angeschnitten, die Verletzungen und Verletzlichkeit auf allen Seiten. Das Trans-Sein des Protagonisten und seine Präsentation erscheint unsicher, voller Angst vor der unberechenbaren Familiensituation, die offenbar jahrelang vermieden wurde. Die Dialoge sind stark und natürlich, viele Sätze enden im Nichts, mit viel Unausgesprochenem, möglicherweise war auch viel improvisiert.
Der Film bemüht sich um Inklusion. Neben der trans Person (die hier ganz selbstverständlich auch von einem trans Mann, Elliot Page, gespielt wird) ist eine wohl nonbinäre Person (aus der WG) und eine Person mit einer Hörbeeinträchtigung dabei.
Wo hast du allenfalls Bedenken?
Der Film erscheint mir unglaublich amerikanisch (I love you - I love you too, I am so proud of you... kommt sehr häufig vor), und es wird ausführlich geweint, wenn die Protagonist*innen von ihren Gefühlen übermannt werden. Das hat mich eher gestört, ebenso wie eine gewisse Langatmigkeit (manchmal sogar fast Langweiligkeit), wenn sich die Geschichte nicht weiterentwickelt hat. Das war mir manchmal ein bisschen zu viel. Ausser einer grossen emotionalen Achterbahn, die das Nachhausekommen bedeutet, bleibt von der Geschichte sehr wenig hängen. Es wird sehr viel über Gefühle geredet, eine eigentliche Handlung tritt eher in den Hintergrund, stattdessen soll eine Atmosphäre, in der viel geredet und manchmal dennoch wenig gesagt wird, aufgezeigt werden. Da lässt mich der Film an manchen Stellen etwas ratlos zurück.
Wem würdest du den Film empfehlen?
Empfehlen würde ich den Film trotzdem allen, die das Thema "Heimkommen in die Familie und zu alten Freund*innen" nach einer wichtigen Entwicklungsphase kennen oder darauf neugierig sind. Mir fällt dazu ein Song ein wie "Smalltown Boy" von Bronski Beat ein, der eine ähnliche Stimmung transportiert.
*Der Kunsthistoriker Henry Hohmann (geb. 1962) lebt in Bern. Er ist trans Aktivist und war Mitbegründer des Transgender Network Switzerland (tgns).
