Ein grosses und ein kleines Jubiläum

Ein grosses und ein kleines Jubiläum

Locarno Film Festival 2023 - von Peter Dietz

Ein grosses und ein kleines Jubiläum – persönliche Eindrücke vom Festival
Vor fünfzig Jahren, 1973, wurde in Locarno die erste ökumenische Jury eingerichtet, was mit dem ökumenischen Empfang und einem Ehrenpreis an den ungarischen Regisseur István Szabó gefeiert wurde.

Ich selbst besuchte das Locarno Film Festival vor 20 Jahren das erste Mal, das kleine Jubiläum. Damals nahm ich an einem Filmkurs am Filmfestival teil. Hans Hodel, der damals Filmbeauftragter der Reformierten Kirchen der deutschen Schweiz war, leitete den Kurs und konnte mich für die weitere Arbeit mit Filmen begeistern. 

Wer einmal am Locarno Film Festival war, dem muss ich die besondere Atmosphäre des Festivals nicht beschreiben. Eine grosse Auswahl an Filmen wird gezeigt, dabei hat es bei nicht zu kurzfristiger Reservation immer genügend Platz, das zu sehen, was ich ausgewählt habe. Einfach ist es mit auch mit unbekannten Menschen sei es im Restaurant oder im Kino über Filme ins Gespräch zu kommen. 

Als regelrechter Festivalfreak schaue ich in den 10 Tagen jeweils zwischen 40 und 50 Filme. Ich geniesse es, mich den Emotionen, den Geschichten und Schicksalen auszusetzen, oder in andere Länder und Welten einzutauchen. Ich frage mich manchmal, wann mich ein Film besonders berührt? Ich denke, es ist dann besonders der Fall, wenn der Film in meiner eigenen Biografie Bezugspunkte bietet.

Vier Filme möchte ich kurz herausgreifen. Der erste heisst: „Prisoners of Fate“ des Schweizer Exiliraners Mehdi Sahebi. Mit diesem Dokumentarfilm, der in der Reihe „Semaine de la critique“ gezeigt wurde, begleitet Mehdi verschiedene afghanische oder iranische Migrant:en durch den Asyldschungel der Schweiz. Der Film bleibt nicht ohne Hoffnung, gibt es doch hin und wieder ein Happy End. Da ich selbst seit Jahren in Kontakt mit zahlreichen geflüchteten Menschen bin, ist mir der Film sehr nahe gegangen. 

Am ökumenischen Empfang konnte ich kurz mit Mehdi Sahebi sprechen. Er hat sich sehr darüber gefreut, dass mir sein Film gefallen hat. Gerne würde Mehdi Sahebi nach der Filmauswertung im Kino, den Film auch in Kirchgemeinden zeigen und darüber mit dem Publikum und einigen der Protagonisten diskutieren. Vielleicht liest jemand diese Zeilen und sieht Möglichkeiten dazu.

Beim Sandwichkauf im Coop bin ich Sagnik Mukherjee, dem Hauptdarsteller des indischen Films: „Whispers of Fire and Water“ begegnet. Auch er war erfreut über unsere Begegnung. Der Zufall wollte es, dass wir uns später noch einmal trafen. Da war auch der Regisseur: Lubdhak Chatterjee und andere aus der Filmcrew dabei. Wir haben Kontaktdaten ausgetauscht, und ich wurde wie selbstverständlich nach Kolkata eingeladen. Seit vielen Jahren engagiere ich mich in einem sozialen Projekt in Chennai. (www.leed.in) Deshalb ist mir Indien nicht unbekannt, und vielleicht auch darum hat mich der Film sehr angesprochen. 

Der Film lief in der Sektion: „Concorso Cineasti del presente“. Er wird am Festival folgendermassen angekündigt: „Der Audio-Installationskünstler Shiva besucht die Kohleminen Ostindiens und leidet unter der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und an einem in ihm brennenden Feuer. Doch er erliegt dem sozio-politischen System und zieht in ein Stammesdorf im Wald. Dort stellt er seine städtische Sichtweise und seine Selbsteinschätzung in Frage. Das Element Wasser bildet das Labyrinth seiner Wahrheitssuche.“ Was mich bei diesem Film besonders beeindruckt hat, sind die sorgfältig gestaltete Tonspur und die eindrücklichen Bilder der rauchenden Kohlemine und und im Gegensatz dazu die des grünen Urwalds.

Gerne schaue ich auch Filme ausserhalb des offiziellen Wettbewerbs. Dieses Jahr hat mich besonders gefreut, dass der Film „Rizi“ (Days) von Tsai Ming-liang gezeigt wurde. Während der Corona-Zeit habe ich Tsai Ming-liang auf der Streamingplattform MUBI entdeckt. In den gut zwei Stunden Film wird kaum gesprochen, und es gibt vielleicht vierzig verschiedene Einstellungen. Der Film lässt mir Zeit, genau zu beobachten, eigenen Gedanken Platz zu geben. Die Handlung ist schnell erzählt: „In einem grossen Haus mit Blick auf die Natur kämpft Kang gegen den Schmerz, der seinen Körper zerfrisst. Non, ein junger Masseur, lebt in einer kleinen Stadtwohnung. Als sie sich in einem Hotelzimmer begegnen, finden sie Trost ineinander, bevor sie wieder in ihren Alltag zurückkehren. Tsai Ming-liang stellt ein neues reges Kapitel seiner Meditation über die Zeit, die Einsamkeit und die Liebe vor.“ Wer könnte von diesen Themen nicht angesprochen werden? Besonders guttuend an diesem Film ist seine Langsamkeit, die im Kontrast zu so vielen anderen Filmen steht, bei denen es schon nach wenigen Sekunden neue Schnitte und Szenen geben muss.

Ein weiterer für mich erwähnenswerter, besonderer Film lief im offiziellen Wettbewerb: „El auge del humano 3“ Er hat vielleicht deshalb keinen Preis bekommen, da er schwer oder gar nicht zu erklären ist. Der Film von Eduardo Williams ist durchgehend mit einer 360 Grad Kamera aufgenommen. Figuren suchen ihren Weg, sei es in Sri Lanka, Peru oder Taiwan, sei es in unwirklichen Landschaften oder ebensolcher Städte. Für mich waren es Traumbilder, wie ich sie selbst schon ähnlich geträumt habe und deshalb hat der Film für mich eine besondere Bedeutung gewonnen. Träume kann ich auch nicht immer erklären, aber sie helfen mir, den Alltag zu verarbeiten. Ist es mit diesem Film auch so? Ich weiss es nicht.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich denn beim Schauen von so vielen Filmen nicht überfordert werde, und wie ich das alles verarbeiten könne. Ich antworte dann jeweils, dass ja eigentlich so lange wir leben, immer ein Film läuft, nur manchmal ist er nicht so spannend und durchdacht, wie ein Festival-Film. Auf jeden Fall sind die Filme eine gute Schulung in Empathie, wie wir sie in dieser Welt dringend benötigen.
Peter Dietz

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