
78. Locarno Film Festival 2025
Bild: Janicke Askevoldaus erhält den Preis der ökumenischen Jury, bestehend aus Mélanie Pollmeier für Interfilm (Vorsitzende), Roland Kauffmann (Interfilm-Profil), Ileana Bîrsan (Signis) und Philippe Cabrol (Signis)
aus dem Französischen:
Locarno, ein engagiertes Festival - von Philippe Cabrol
Der Goldene Leopard des 78. Filmfestivals von Locarno wurde von der internationalen Jury unter Vorsitz von Rithy Panh an den Film Tabi To Hibi (Two Seasons, Two Strangers) des Japaners Sho Miyake verliehen, während die ökumenische Jury unter Vorsitz von Mélanie Pollmeier sich für Solomamma entschied, den ersten Film der in Frankreich lebenden norwegischen Regisseurin Janicke Askevold.
Der diesjährige Wettbewerb war in vielerlei Hinsicht stark von Geistern geprägt. Geister, die aus der Abwesenheit eines geliebten oder gehassten Menschen entstanden sind. Geliebt, wie Dry Leaf des Georgiers Alexandre Koberidze (Fipresci-Preis der Jury) oder gehasst, wie in Bog Neće Pomoći (God Will Not Help) der Kroatin Hana Jušić (Leopard für die beste Darstellerinnenleistung für Manuela Martelli und Ana Marija Veselčić, gemeinsam mit Marya Imbro und Mikhail Senkov für White Snail von Elsa Kremser und Levin Peter). Aber auch Geister im wahrsten Sinne des Wortes in Sehnsucht in Sangerhausen (Phantoms of July) des Deutschen Julian Radlmaier oder in Linije želje (Desire Lines) des Serben Dane Komljen. Das Thema der Abwesenheit, das dem der Geister oder Engel nahekommt, ist ein weiterer roter Faden des Wettbewerbs. Die Abwesenheit der Erwachsenen, die in Mare's Nest des Engländers Ben Rivers (Grüner Leopard für einen Film, der sich mit Umweltfragen und Klimawandel befasst) in einer unausweichlichen Apokalypse verschwunden sind, oder sogar die Abwesenheit der Unbeschwertheit oder der verlorenen Kindheit in Le lac des Schweizers Fabrice Aragno (Auszeichnung der ökumenischen Jury).
Der Lärm und die Wut, ja sogar die Vulgarität der heutigen Welt, die von Krieg und sozialer und politischer Gewalt erschüttert ist, standen im Mittelpunkt der rumänischen Produktionen (Dracula von Radu Jude und Sorella di Clausura von Ivana Mladenović) sowie der Filme, die sich mit dem Nahostkonflikt befassen (With Hasan In Gaza des Palästinensers Kamal Aljafari, Preis des Labels Europa Cinéma, oder Tales Of The Wounded Land des Libanesen Abbas Fahdel, Leopard für den besten Regisseur). Die Erinnerung der Völker stand im Mittelpunkt von As Estações (The Seasons) der Portugiesin Maureen Fazendeiro oder auch die Träume und Punk-Fantasien der Kindheit mit Le bambine (Mosquitoes) der Schwestern Valentina und Nicole Bertani, ohne die Absurdität der Welt mit Donkey Days der Niederländerin Rosanne Pel zu vergessen.
Bemerkenswert ist, dass zwei Schwergewichte des internationalen Wettbewerbs ohne Auszeichnung nach Hause gingen. Mektoub, My Love: Canto Due, das eine Art filmische Wiederauferstehung des Franzosen Abdellatif Kechiche darstellt, und Yakushima's Illusion (L'Illusion de Yakushima) der Japanerin Naomi Kawase, eine wunderschöne Ode an das Leben, groß geschrieben über Leben und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit hinaus.
Von den achtzehn Filmen des internationalen Wettbewerbs sind diese beiden zusammen mit Solomamma für das breite Publikum am zugänglichsten. Locarno lässt sich jedoch nicht auf seinen internationalen Wettbewerb reduzieren. Was dieses Festival so einzigartig macht, ist seine Vielfalt und sein Engagement. Die großen Open-Air-Kinoabende widmeten sich den Kämpfen der iranischen Schauspielerinnen und Regisseure Golshifteh Farahani, Mohammad Rasoulof und Jafar Panahi und würdigten gleichzeitig große populäre Künstler wie Jacky Chan, Emma Thompson und Willem Dafoe. All diese Künstler begnügen sich nicht mit einem Auftritt auf der Bühne, sondern begegnen dem Publikum an Orten, die kostenlos und für alle zugänglich sind. Nicht zu vergessen sind die Nebenprogramme wie „Open Doors”, das speziell dem afrikanischen Kino gewidmet ist und es ermöglicht, echte Perlen des Kontinents zu entdecken, oder „Les Léopards de demain” (Die Leoparden von morgen). Mehrere Debütfilme, die auf dem Festival vorgestellt wurden, haben gerade von der Sprungbrettwirkung dieses Kurzfilmwettbewerbs profitiert.
Das Festival von Locarno ist zwar international bekannt, bleibt aber dennoch überschaubar. Dazu trägt nicht nur die Kulisse bei, sondern auch das Engagement der Gemeinden, die dieses Ereignis selbst für diejenigen, die sich nicht für Kino interessieren, zu einer großen Volksveranstaltung mit zahlreichen Konzerten machen. Locarno hat auch ein Organisationsteam, das sich besonders um das Publikum und die Künstler kümmert, auch außerhalb des Wettbewerbs. Diese ständige Interaktion ist zweifellos einer der Hauptgründe für den wachsenden Erfolg dieses Tessiner Festivals.
Eine Besonderheit des Filmfestivals von Locarno ist die Einladung unabhängiger Jurys, darunter seit 1973 die ökumenische Jury, die damit die älteste ökumenische Jury der großen Festivals ist. Die Jury wird von den protestantischen Vereinigungen Interfilm und den katholischen Vereinigungen Signis organisiert und vergibt einen mit 10.000 Schweizer Franken (ca. 11.000 €) dotierten Preis, der von den katholischen und protestantischen Kirchen der Schweiz gestiftet wird. Eine weitere Besonderheit: Im Rahmen eines Empfangs in den Räumlichkeiten der Festivalverwaltung kommen zahlreiche lokale und nationale Persönlichkeiten zusammen, an dem auch der künstlerische Leiter Giona N. Nazzaro besonders gerne teilnimmt, um die ökumenische Jury zu treffen.
Diese Einbindung in das Festival ist vor allem dem Engagement des Jurykoordinators, dem Schweizer Charles Martig, zu verdanken, der die Programme dreißig Jahre lang begleitet und organisiert hat. Als Kommunikationsbeauftragter der Diözese Bern nutzte er diese 30. Jury, um den Stab an zwei neue Koordinatoren, die Schweizer Silvan Maximilian Hohl und Baldassare Scolari, weiterzugeben.
Die Jury trifft sich auch mit der Öffentlichkeit bei einer Feier, die von der römisch-katholischen, der reformierten, der altkatholischen und der syrisch-orthodoxen Kirche in einer Kirche der Stadt organisiert wird. Eine wahrhaft ökumenische Dimension, die sich in der tiefen Verbundenheit zwischen den verschiedenen Akteuren manifestiert. Die Predigt wird einem der Jurymitglieder anvertraut.