18/04/2024

"Omegäng"

«Wir verstehen alle, auch Norddeutsche, aber andere verstehen uns nicht», gibt der Bergbauer zu Protokoll. Dass es mit der Verständigung auch innerhalb der Schweiz nicht so einfach ist, macht der Dokumentarfilm des Luzerners Aldo Gugolz («Kühe auf dem Dach», 2020) deutlich. Wobei der Film weniger diese Schwierigkeiten aufzeigen will. Vielmehr legt er Zeugnis ab von einer erstaunlichen und bereichernden sprachlichen Vielfalt in der kleinen Schweiz, von der im Zeitalter der Globalisierung eindrücklichen «linguistischen Biodiversität», wie Franz Hohler analysiert.

So begegnen wir auf einer Reise durch die Deutschschweiz prominenten Literaten, Sprachforschern, aufmüpfigen jungen Frauen oder Originalen aus dem bäuerlichen Umfeld. Sie alle sprechen über den Wert der Benutzung und Bewahrung der Dialekte sowie über regionale Besonderheiten – und sinnieren darüber nach, was der berndeutsche Ausdruck «omegäng» wohl bedeuten könnte. Bei Letzteren, den Bauern und Älplern, erfahren wir zum Beispiel, inwiefern es sprachliche Unterschiede zwischen Appenzell Inner- und Ausserrhoden gäbe. In Ausserrhoden werden das «r» stärker betont, aber ansonsten seien es «Menschen wie wir». Während die Deutschschweiz in eine «Zibele-» und «Bölehälfte» aufgeteilt ist, wird es im Kleinräumigen spannender: etwa dem St. Galler Rheintal, wo von Dorf zu Dorf sprachliche Eigenheiten festzustellen sind. Oder wenn die Luzerner Chorleiterin in ihrer Tätigkeit mit einem Nidwaldner Frauenchor herausgefordert ist. Nicht nur gilt es, die sprachlichen Finessen zu respektieren, die Texte sollen auch noch gendergerecht in die heutige Zeit übersetzt werden.

Eindrücklich ist der Besuch der Redaktion des «Idiotikons», wo Millionen von Zetteln aufbewahrt sind, die die sprachliche Entwicklung der letzten 700 Jahre dokumentieren. Ein Highlight des Filmes bietet Franz Hohler, der sein «Totemügerli» performt – alles Phantasiebegriffe, die die Musikalität des Berndeutschen wiedergeben und zum Teil Eingang in berndeutsche Wörterbücher gefunden haben. Pedro Lenz vermutet, dass nicht die Dialekte, sondern eher das Hochdeutsch aussterben werde und die Dialekte plus das Englisch daneben in Zukunft bestimmend sein werden. Eine Berner Rapperin singt im Dialekt gegen die Verschandlung ihres Quartiers an, da dies die Sprache ihres Herzens sei. Das gilt auch für ihre Zürcher Kollegin. Diese spielt jedoch zudem mit der sprachlichen Entwicklung. So kreierte sie den Begriff «Fertilitäter», was irgendwie mit Fruchtbarkeit, Vermehrung und Tätern zu tun habe. Und ergänzt dann: «natürlich Fertilitäter:innen». Wobei auch deutlich wird, wie stark die Sprache von Jungen (und nicht nur von diesen) von Anglizismen durchsetzt ist. Franz Hohler meint dazu schmunzelnd, «googeln» sei doch ein Dialektwort geworden, vergleichbar mit «Mir göh schnäll go höie».

Immer wieder kreist der Film (im wahrsten Sinne des Wortes) um Kreisel im Strassenverkehr. Deren unterschiedliche künstlerische Gestaltung verweist wohl auf die schweizerische Vielfalt. Sie dokumentiert aber möglicherweise auch eine gewisse schweizerische Sättigung und Selbstgefälligkeit beziehungswiese die Schwierigkeit, hier angesichts der sprachlichen Hürden heimisch zu werden. Das wird etwa dort deutlich, wo die Urnerin mit Migrantinnen und Migranten den «Ürner Dialekt» übt und der eritreische Geflüchtete Alwa in der Konditorei «Anis-Uri-Stiere, Tirggle, Spitzbuobe oder Pfaffenhüetli» produzieren und benennen muss.
Und was bedeutet nun «Omegäng»? Meint es «grad e Ding», was «ist mir egal» bedeutet, wie der Appenzeller denkt? Heisst es «bald», «sofort» oder «bloss immer», wie andere vermuten? Das Rätsel mag vielleicht anlässlich eines Kirchenkino-Anlasses oder einer Veranstaltung mit Senior:innen gelöst oder durch weitere kreative Deutungsversuche ergänzt werden. Dass der Film zum Austausch anregt, zeigt sich schon darin, dass er anlässlich der Solothurner Filmtage 2024 mit dem Publikumspreis ausgezeichnet worden ist.

Hermann Kocher

Regie und Drehbuch: Aldo Gugolz, Schweiz 2024, 76 Min., Dialekt/d.
Mit Franz Hohler, Big Zis, Pedro Lenz, Alwa Alibi, Cachita, Simone Felber, Nadia Zollinger, Markus Gasser, Christoph Landolt u.a.

Ab 18. April 2024 im Kino (Vorpremiere mit dem Regisseur am 17. April, 20.00 Uhr im Kino Rex, Bern)