
LA LIGNE
Die erste Einstellung des Films ist überraschend faszinierend: Der Blick ist auf eine Wohnungsecke gerichtet. In Zeitlupe fliegen verschiedene Alltagsgegenstände durch die Luft und zerschellen an der weissen Wand. Die Szene ist mit klassischer Musik untermalt.
Erst nach einigen Minuten schwenkt die Kamera und es wird ersichtlich, wer diese Dinge wirft. Margaret, eine junge Frau mit kurzen Haaren, rasend vor Wut. Sie geht auf eine andere Frau im Raum los – ihre Mutter Christina – und muss von zwei weiteren Personen davon abgehalten werden.
Am Ende des Kampfes ist Christina mit dem Kopf auf das Klavier gefallen. Der Schlag verursacht bei ihr einen Tinnitus. Margaret wird erst aus der Wohnung geschmissen, dann in Polizeigewahrsam genommen. Sie erhält ein Kontaktverbot. Was die Ursache für den Gewaltausbruch gewesen ist, entschlüsselt sich nach und nach. Margaret hat Probleme, ihre Emotionen zu kontrollieren und Christine ist eine schwierige Mutter, die ihre drei Töchter oft in den Wahnsinn treibt.
Doch so einfach liest sich diese etwas andere Familiengeschichte von Ursula Meier dann doch nicht. Irgendwo zwischen Selbstzweifeln, Versagensängsten, Schuldgefühlen und dem Wunsch, gesehen und geliebt zu werden, mäandert das komplizierte Gefühlsgeflecht zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Nähe und Distanz. Dabei ist die Musik das, was beide verbindet und sie am Leben hält. Stéphanie Blanchoud und Valeria Bruni-Tedeschi meistern auf beeindruckende Weise diesen schwierigen Tanz auf dünnem Eis.
Sarah Stutte, Filmjournalistin
«La Ligne», CH/FR/BE 2022, Regie: Ursula Meier, Besetzung: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Dali Benssalah, Verleih: Filmcoopi, http://www.filmcoopi.ch
Kinostart: 16. Februar 2023
BIldnachweis: www.medientipp.ch